„Claudia ist ungefähr achtzehn, vielleicht achtzehneinhalb. Leidlich hübsch, etwas drall. Sie lacht ziemlich schrill und hat manchmal abgebrochene Fingernägel. Sie wohnt hier in der Penne, drüben im Angestelltenhaus, wo alle Köchinnen untergebracht sind. Unangenehm ist sie uns noch nicht aufgefallen. Oder, Willi?"
„Im Gegenteil", versicherte Klößchen eilig. „Mir gibt sie Extraportionen, wann immer ich will. Wenn sie im Speisesaal bedient, kann ich mich nicht beklagen. Deshalb habe ich jetzt ein ganz schlechtes Gewissen, daß ich sie so in die Bratpfanne haue."
„Was soll das?" pfiff Tim ihn an. „Deine Extraportionen und Claudias Umgang mit einem gesuchten Verbrecher sind zweierlei Hüte. Bei uns kommt erst die Moral - will sagen: Recht und Gesetz - und dann der Internatsfraß."
„Wenn sie wirklich geknutscht haben", sagte Karl, „kann man davon ausgehen, daß sie sich näher kennen. Oder ist diese Claudia eine, die sich von jemanden abküssen läßt, mit dem sie zufällig an der Haltestelle steht?"
„Natürlich nicht!" erwiderte Klößchen. „Claudia Tümmel hat das richtige Augenmaß für Männer und Macker. Das erkennt man schon an meinen Extraportionen."
Für einen Moment schwiegen alle.
Tim sah in Gabys Kornblumen-Augen, und sie erwiderte den Blick, als wäre draußen Mai und nicht Herbst.
„Hast du deinen Vater befragt, Gaby?"
„Habe ich. Detlef Knobel ist 29 Jahre alt, kriminell seit 16, in gefährlicher Weise gewalttätig und in gewisser Weise süchtig. Nicht nach Heroin, Haschisch oder Kokain, sondern nach aufputschenden Tabletten. Deshalb hat er schon mehrmals Apotheken überfallen und ist in Arztpraxen eingebrochen. Überhaupt: Überfälle und Einbrüche - damit verdient er sich seinen Lebensunterhalt. Er hat zwei Vorstrafen. Gesucht wird er wegen mehrerer Übeltaten. Bei der nächsten Verurteilung droht ihm langjähriger Knast. Daß er ganz gut aussieht, könnt' ihr ja feststellen", sie deutete auf den Steckbrief. „Wahrscheinlich ist diese Claudia in ihn verknallt. Und vielleicht weiß sie gar nicht, an wen sie da ihr Herz gehängt hat."
Karl hob die Brauen über den Rand der Nickelbrille. „Sagen wir's ihr?"
Tim schüttelte den Kopf. „Sie verteilt zwar Extraportionen, aber Vernunft und Einsicht hat sie bestimmt nicht mit Löffeln gefressen. Es besteht die Möglichkeit, daß sie Bescheid weiß über ihren Macker - und trotzdem zu ihm hält. Weil er ihr Typ ist. Wenn wir dann mit der Message (Nachricht) anrücken, hätte das nur zur Folge, daß sie ihn warnt."
„Also", schlußfolgerte Karl, „läuft es darauf hinaus, daß wir Claudia Tümmel beschatten. Damit sie uns, ohne es zu ahnen, zu Knobel hinführt. Dann greifen wir zu, und Gabys Vater hat eine Sorge weniger."
Tim nickte. „Du sagst es."