Band 017: Die Doppelgängerin

Band 017: Die Doppelgängerin
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Preise bei Erscheinen:
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Gebundenes Buch · 192 Seiten · 12.2 x 18.8 cm
cbj
Juli 2004
€ 7,50 [D] | € 7,80 [A] | CHF 13,90 (UVP)
978-3-570-15016-0
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Leseprobe

llustration von Seite 117.
llustration von Seite 117.

Nach dem Mittagessen verebbte der Lärm im Haupthaus der
Internatsschule. Die meisten Schüler fuhren in die Stadt; die
sportlichen entschieden sich für Schwimmen oder Fußball,
die trägen lagen in ihren Buden auf den Betten.
Tarzan wollte einen Brief an seine Mutter schreiben und
lief die vier Treppen zum ADLERNEST hinauf. Dort, in der
kleinsten Bude vom Obergeschoss, saß Klößchen auf dem
Fensterbrett. 50 Meter Nylonseil lagen aufgerollt zu seinen
Füßen. Ein Stück hielt er zwischen den Händen. Er zerrte mit
Leibeskräften daran – offenbar, um die Haltbarkeit zu prüfen.
»Ist dir ein Schnürsenkel gerissen?«, fragte Tarzan. »Den
kannst du von mir haben.«
Klößchen schüttelte den Kopf. Antworten konnte er nicht.
Sein Mund war voll gestopft. Ein Stück Schokolade sah noch
hervor.
Nachdem er gekaut und geschluckt hatte, flüsterte er: »Pst!
Ich will doch die Strickleiter reparieren.«
Tarzan bückte sich und sah unter beide Betten.
»Kannst laut sprechen. Bis jetzt hat sich kein Pauker eingeschlichen.
Es sei denn, es sitzt einer im Schrank.«
»Ach, du! Dir ist es wohl egal, ob ich abstürze wie ein Alpinist
aus der Eiger-Nordwand.«
»Aber nein!«, lachte Tarzan. »Es wäre in der Tat bestürzend,
wenn du abstürzend einen Bergunfall erleidest –
zwischen Schulhof und zweiter Etage am Seitentrakt des
Hauptgebäudes. Ist unser Fluchtinstrument denn wirklich
kaputt?«
»Ganz dünn gescheuert zwischen Sprosse sieben und
acht«, nickte Klößchen. »Bei unserem nächsten nächtlichen
Ausflug hätte das Unglück eine Chance.«
»Na, dann werden wir die deutsche Wertarbeit flicken.«
»Meine Strickleiter«, sagte Klößchen, »wurde im Ausland
hergestellt. Aber Fehler bei der Fertigung passieren hier wie
dort.«
Die Strickleiter war ein Geheimnis der beiden Freunde
und sonst nur noch den anderen Mitgliedern der TKKGBande
bekannt: Gaby und Karl. Die Hausordnung des Internats
bestimmte: Nach 21 Uhr dürfen Schüler unter 14 Jahren
ihren Schlaftrakt im Hauptgebäude nur im Notfall verlassen.
Unter Notfall verstand man Feuer, Erdbeben oder Einsturzgefahr.
Um die Schüler nicht zu überfordern, wurde der Versuchung
zum nächtlichen Ausflug ein Riegel vorgeschoben –
buchstäblich. Mit dem Glockenschlag 21 Uhr sperrte Hausmeister
Mandl alle Türen im Erdgeschoss ab. An die Fenster
kam ohnehin niemand ran – sie gehörten zu den Diensträumen
der Lehrer oder zu Klassenzimmern.
Ab 21 Uhr gefangen, eingekerkert? Tarzan und Klößchen
fanden das empörend, hatten einen Fluchtweg durchs Flurfenster
des zweiten Stocks erkundet und sich technisch ausgerüstet.
Für den sportlichen Tarzan genügte ein Seil, um hinauf-
und hinunterzuklettern. Aber Klößchen, der dicke
Gemütsbrocken, benötigte eine Strickleiter.
Versteckt war sie auf dem Speicher, dort auf einem Balken
in hinterster Ecke.
»Reparieren wir’s hier?«, fragte Klößchen.
Tarzan nickte. »Die ganze Etage ist ausgeflogen.Und wenn
ein Pauker kommt – das hören wir rechtzeitig.«
»Dann will ich sie mal holen.« Klößchen nahm seinen blau
gestreiften Bademantel vom Haken. »Ist besser, dass ich sie
einwickele – falls mir jemand begegnet.«
Eine Minute später hörte Tarzan, wie sein dicker Freund
die Holzstufen der Speichertreppe herunterpolterte.
Die Tür flog auf. Klößchen stürmte herein, den Bademantel
zur Hälfte um den Hals geschlungen, von der anderen
Hälfte wie mit einer Toga (alt-römisches Gewand) bedeckt.
Sein tomatenrotes Gesicht bebte vor Zorn. In der Hand
schwenkte er einen zerknitterten Zettel.
»Und wo hast du die Strickleiter?«, fragte Tarzan.
»Sie... sie... ist weg! Verschwunden! Gestohlen! Entwendet!
Nur das lag auf dem Balken.«
Wieder schwenkte er den Zettel, als sollte ein Papierflugzeug
absegeln.

Illustration von Seite 160.
Illustration von Seite 160.

Tarzan pflückte ihn aus Klößchens zornigen Fingern. Der
Zettel war beschrieben. Blaue Tinte. Druckbuchstaben.
Der Text lautete:Wem auch immer die Strickleiter gehört –
sie wird für verbotene Zwecke benutzt.Wir fordern 100 DM
Auslösungssumme. Dann legen wir die Strickleiter auf den
Balken zurück Das Geld ist hinter dem Briefkasten an der
St.-Irmengard-Mädchenschule in der Stadt zu verstecken. Erst
nach Erhalt kommt die Strickleiter zurück. XY.
»Erpressung!«, keuchte Klößchen. Dann stampfte er auf.
»Pfui! Das ist gemein!«
»Ich kann’s kaum glauben«, sagte Tarzan durch die Zähne.
»Da ist also ein Mistkerl unter uns, der seine Kameraden erpresst.
Es muss ein Interner sein. Von den externen Stadtschülern
verirrt sich keiner auf den Speicher. Die dürfen ja
nicht mal in die Buden.«
»Wer ist XY?«, Klößchen ballte die Fäuste. »Weißt du, was
ich glaube?«
»Na?«
»XY weiß nicht, wem die Strickleiter gehört – ich meine,
dass du sie genauso benutzt wie ich. Sonst würde dem Kerl
jetzt das Hemd flattern. Der könnte sich doch denken, dass
du ihm auf die Spur kommst – und er dann Keile kriegt, bis er
um Gnade winselt.«
»Genau das wird passieren.«
»Eben. Ob’s einer ist? Oder sind es zwei? Der eine nennt
sich X, der andere Y.«
Tarzan dachte nach. »Ich tippe: nur einer.Weil – geh mal
in Gedanken die Etage durch, Bude für Bude. Wir haben
tolle Kameraden,Verklemmte, Angeber, Miesmacher,Vollidioten
und Wunderkinder. Aber wir haben nur einen Toni
Ehrlich.«
»Stimmt!«, rief Klößchen. »Also, ehrlich – nur dem Ehrlich
ist das zuzutrauen.« Gedämpft fügte er hinzu: »Der soll schon
geklaut haben. Hinter dem Rücken redet er schlecht über
jeden. Beim Fußball tritt er immer zuerst gegen das Schienbein
des Gegners, dann gegen den Ball. Außerdem ist Ottmar
Paulsen sein bester Freund.«
»Da haben sich zwei gesucht und gefunden«, nickte Tarzan.
»Toni Ehrlich und Ottmar Paulsen – nur dass Paulsen in der
Stadt wohnt bei seinem Vater.«
»Der war im Zuchthaus«, wusste Klößchen, »wegen Einbruchs.
Aber sein Sohn wird noch schlimmer. Und so was wie
Ehrlich und Paulsen sitzt bei uns in der Klasse.«
»Nicht mehr lange.«
»Wieso?«
Ȇberleg doch! Die sind 16. Einmal sitzen geblieben in
der Grundschule. Jetzt machen sie die Neunte zum zweiten
Mal. Und wie stehen sie? Aussichtslos. Und damit sind sie
weg vom Fenster. Ein drittes Mal darf man nicht wiederholen.«
»Ein Glück!«, seufzte Klößchen. Aber gleich fiel ihm ein:
»Na ja! Wer weiß, wann mir das mal blüht.Was tun wir denn jetzt?«
»Ehrlichs Schrank dürfen wir nicht durchsuchen. Außerdem:
Dort ist die Strickleiter bestimmt nicht. Deshalb holen
wir jeder 50 Dm vom Sparbuch. Das Geld stecken wir hinter
den Briefkasten.«