Karl schlenkerte mit der Einkaufstüte.
Gaby nahm den Hausschlüssel aus dem Blumentopf neben der Eingangstür und schloß auf.
„Herr Dr. Lattmann, wir sind's!" rief sie die schmale Treppe hinauf.
Picassos Krankenzimmer war im Obergeschoß.
„Schön, daß ihr kommt!" antwortete er.
Sie stiegen die Holzstufen hinauf. Durch ein kleines Fenster fiel Sonnenlicht in schräger B ahn.
Ziemlich viel Staub lag herum, wie Gaby feststellte. Aber dazu hatte Lattmann sicherlich dieselbe Einstellung wie zum Unkraut.
Sein Atelier, wie er den Raum nannte, befand sich an der Schmalseite des Häuschens. Durch ein Panoramafenster im schrägen Dach drang Tageslicht in überwältigender Fülle herein. Und nicht nur das. Die Bäume schienen hereinzuwachsen.
Weit reichte der Blick wegen der Obstbäume nicht. Aber an einem kränkelnden Apfelbaum hatte Lattmann, bzw. der Friedhofsgärtner - mit dem er befreundet war -, einige Äste ausgelichtet.
Ungewollt ergab sich dadurch ein Durchblick zum Nachbarhaus, was später noch von erheblicher Bedeutung sein sollte.
„Riesig nett, wie ihr euch um mich kümmert!" strahlte Lattmann. „Gaby, du bist ja wie eine Mutter zu mir."
„Wenn ich Ihre Mutter wäre", lachte sie, „müßten Sie sich besser ernähren. Oder haben Sie noch genug im Eisschrank?"
Picasso bestätigte, er habe.
Mit Blick zum Fenster hatte er sich in einen bequemen Sessel niedergelassen. Und das Gipsbein auf einem Hocker ausgestreckt. Krücken und Telefon standen bereit. Neben Lattmanns Sessel stapelten sich Kunstbildbände.
Der Kunsterzieher war schmächtig und unsportlich. Seit seiner Kindheit hatte er keinen Ball mehr angefaßt und keine Turnschuhe getragen. Er neigte zu schlechter Haltung und wog nur 64 Kilo bei einer Größe von 188 cm. Kummer bereitete ihm das nicht. Selbst mit dem Schwinden seiner Künstlermähne hatte sich sein sonniges Gemüt abgefunden. Er neigte nämlich zum Haarausfall, und die Stirn dehnte sich aus. Da ihm die Haare hinten bis auf die Schultern hingen, bot er einen komischen Anblick.
„Wenn du uns Tee machst, Gaby", meinte er, „trinken wir alle ein Täßchen."
„Den Tee brüht Karl", bestimmte sie. „Ich muß mit Ihnen abrechnen."
Also stakte Karl in die Küche hinunter - und tröstete sich damit, daß Jungen und Mädchen heutzutage gleichberechtigt sind, also auch die gleichen Pflichten erfüllen dürfen.
Gaby zeigte Lattmann den Kassenzettel, den er gar nicht sehen wollte, weil er vollstes Vertrauen hatte. Doch sie bestand darauf und zählte dann das überschüssige Geld ab.
„Leg's doch bitte auf den Schreibtisch", bat er. Im nächsten Moment schrie er: „Nein, nicht auf das Bild."
Gabys Hand voller Münzen erstarrte in der Luft.
Stirnrunzelnd blickte sie auf ein Blatt im DIN-A-4-Format, das auf dem Schreibtisch lag. Jemand hatte es offensichtlich benutzt, um seine Farbpinsel daran abzuwischen. Ein buntes Geschmiere war entstanden.
„Hier ist kein Bild", sagte sie.
„Aber ja. Das ist sogar ein Original (vom Künstler eigenhändig geschaffenes Werk). Deshalb bitte nichts drauflegen. Es heißt: Während des Urknalls (Entstehung des Weltalls). Ich kenne den Maler persönlich. Detlef Blassmüller ist ein Hiesiger und gibt Anlaß zu großen Hoffnungen. Ich bin mit ihm befreundet und stolz darauf. Das Gemälde dort ist auch von ihm."
Gabys Blick folgte Lattmanns ausgestrecktem Arm.
An der Wand hing ein großes Foto. Es zeigte eine Zirkusnummer, die der Fotograf festgehalten hatte: einen Schimpansen, der auf einer Geige spielte und von fünf kleinen Schimpansen umgeben war. Sie lauschten ihm andächtig.
„Ich sehe kein Gemälde", sagte Gaby.
„Dort, dort! Der Schimpansen-Menuhin (Menuhin = weltberühmter Geigenspieler)."
„Das ist doch ein Foto."
„Eben nicht. Ein Gemälde."
Gaby trat näher. Jetzt sah sie, daß es sich um Ölfarbe handelte und nicht um Zelluloid.
„Toll! Total naturgetreu."
„Ja, das kann Blassmüller auch. Er kann so malen und so
malen. Ein Genie. Nur zur Zeit befindet er sich in einer schwachen Periode. Er hängt gemütsmäßig völlig durch. Eine reine Selbstsuchts-Phase."
„Aha!" nickte Gaby. „Und wie äußert sich diese Selbstsuchts-Phase?"
„Er malt nur sich selbst. Nur Porträts (Brustbilder) von Detlef Blassmüller. An die 50 hat er fertig. Aber er verkauft keine. Sie hängen alle draußen in seinem Haus in Grünauken."
„In Grünauken? Tim und Willi sind jetzt dort. Bei Gernot Panczek und seinen Eltern. Tim verkauft sein altes Rennrad, weil er seit gestern ein neues hat."
„Ein neues?" fragte Lattmann geistesabwesend. Rennräder interessierten ihn überhaupt nicht - höchstens gemalte.
„Ja. Zu den Porträts würde ich gern wissen: Sind die naturgetreu oder in diesem wüsten Kraut-und-Rüben-Stil wie der Urknall?"
Lattmann lächelte. „Naturgetreu. Wie fotografiert. Detlef meint, daß er als Motiv zu unbedeutend sei, um die zerbrochene Form - den Kraut-und-Rüben-Stil, wie du es nennst -anzuwenden. Das behält er sich vor für erhabene Themen."
„Wie den Urknall?"
„Wie den Urknall", bestätigte Lattmann.
In diesem Moment gab es einen gewaltigen Knall vor der Tür auf der Treppe.