In wenigen Tagen, nämlich am 1. Januar des neuen Jahrtausends, würde Walburga Schwitzke ihren 80. Geburtstag begehen. Leider nicht zu Hause - ein Zuhause hatte sie schon seit langem nicht mehr -, sondern im Altersheim.
Dort war sie gefürchtet. Wegen ihrer Nörgeleien, ihrer Aufsässigkeit und den üblen Streichen, die sie den Mitbewohnern und der Heimleitung spielte.
Walburga war rüstig, aber eben ein gefährlicher Querkopf. Vielleicht lag es daran: In ihrem langen Leben war sie nur zwei Jahre verheiratet gewesen, allerdings mit zwei Männern. Mit jedem ein Jahr lang. 1951 wurde sie zur Doppel-Witwe - wie sie es nannte. Danach fand sich kein Gefährte mehr. Sowas kann verbittern, war aber nicht der Grund für ihren Mangel an großmütterlicher Güte. Nein! Denn verbittert war sie wegen ihres Sohnes. Berthold Schwitzke-Nöhl wurde 1951 geboren, entstammte also der zweiten Ehe. Der Vater - ein gewisser Friedrich Nöhl - verunglückte im selben Jahr mit dem Motorrad. Tödlich.
Berthold, nunmehr 48 Jahre alt, war ein Miststück. Walburga wusste nicht im Einzelnen, was er trieb, hielt es aber immer noch für richtig, ihn zu ohrfeigen - falls er ihr dumm kam. Dazu war reichlich Gelegenheit.
Heute, am 27. Dezember, erwartete sie seinen Besuch. Grimm hatte sich in ihr angestaut wie Wasser in einem verstopften Klosett.
Weihnachten nämlich hatte sich Berti nicht sehen lassen. Angeblich wegen dringender Geschäfte. Ph! Wer arbeitet denn Weihnachten? Doch höchstens
der Weihnachtsmann - und selbst der macht um Mitternacht Feierabend.
Walburga überlegte, während sie in ihrem Schaukelstuhl am Fenster saß
und in den verschneiten Park hinausblickte.
Das Altersheim Ruhekissen in einem südöstlichen Vorort der TKKG-Stadt
galt als nobel. Täglich standen zwei Menüs zur Auswahl. Es gab einen
Fitnessraum für Senioren mit angeschlossener Sauna und die Apartments
(kleine Wohnung) waren fast so groß wie die Zimmer in einem Mittelklasse-
Hotel.