Band 091: Vergebliche Suche nach Gaby

Band 091: Vergebliche Suche nach Gaby
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Gebundenes Buch · 192 Seiten · 12.2 x 18.8 cm
cbj
Juli 2004
€ 7,50 [D] | € 7,80 [A] | CHF 13,90 (UVP)
978-3-570-15091-7
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Leseprobe

llustration von Seite 72/73.
llustration von Seite 72/73.

Als Gaby den Bär sah - oder glaubte, ihn zu sehen -, blieb ihr der Atem weg.
Sie bremste hart. Reifen schmirgelten. Die meterhohe Zimmerpalme, sorgsam festgebunden auf dem Gepäckträger, schwankte, Gaby stand mit beiden Füßen auf dem Asphalt. Die Hände hielten den Lenker. Es war der letzte Samstag im April, der jetzt zu Ende ging. Laue Luft, die schon nach Mai roch. Ungewöhnliche Wärme. Die untergehende Sonne schien Gaby direkt in die Augen. Sie blinzelte. Die dichten Wimpern ersetzten keine Sonnenbrille. Gaby war unsicher. Die Augen tränten fast. Der Rand des Stadtwaldes verschwamm zu einer Wand aus sumpfigem Grün. Keine Spur mehr von dem Bären. War er wirklich dort zwischen den Bäumen aufgetaucht - für eine Sekunde? Gaby hätte nicht gewagt darauf zu wetten. Nein, dachte sie. Totale Täuschung. Vielleicht war's eine Haselmaus. Und der Sonnenblitz auf den Augen hat sie aufgeblasen. Tausendfache Vergrößerung. Alles möglich. Sie stieg wieder auf und fuhr weiter.
Die Noah-Straße war jetzt, gegen 18 Uhr völlig still. Links der Stadtwald, der sich dehnt und dehnt in südliche Richtung: die grüne Lunge der Millionenstadt. Rechts von Gaby lag der Zoo. Manche nennen ihn Tierpark. Offiziell heißt er Zoologischer Garten Arche Noah. Aber so wird er nicht mal in den Zeitungen - und den anderen Medien - genannt.
Der Zoo!, dachte Gaby. Den haben die Medien im Visier. Er liegt unter Beschuss. Zu Recht! Denn wenn das stimmt mit den Tierbabys - unglaublich!
Gaby fuhr langsam. Die wippende Zimmerpalme hinter ihr erforderte das. Ein Geburtstagsgeschenk für Claudia Brings, Gabys mindestens drittbeste Freundin. Claudia war süchtig nach Topfpflanzen und wurde heute 14. Mit ihrer allein erziehenden Mutter wohnte sie auf der anderen Seite des Zoos. Vom Wohnzimmerfenster konnte man das Dach des Raubtierhauses sehen. Als die beiden Brings frisch eingezogen waren, hatte sich Claudia nachts gefürchtet. Denn das Gebrüll von Tiger und Löwe drang durch die Mauern und zu ihr herüber. Inzwischen aber war's ihr vertraut, als hätte sie ihre Kindheit im Dschungel verbracht.
Auch nicht schlimmer als Oskars Jaulen im Schlaf, dachte Gaby - und lächelte der Sonne zu, die noch etwas gesunken war. Die Strahlen zogen eine goldene Bahn über die Wipfel der Fichten und beleuchteten das Dach des einzigen Hauses - eines ältlichen Bungalows -, das hier stand. Es stand auf der Zoo-Seite. Das Gelände des Tierparks wich an dieser Stelle etwas von der Straße zurück. Das Bungalow-Grundstück - ein 20 Meter breites Handtuch mit Haus, angebauter Garage und verwildertem Garten - hatte sicherlich seit Urzeiten sein Besitzrecht verteidigt. Deshalb war hier der Zoo etwas schmaler.
In diesem Moment trompetete beim Elefanten-Gehege ein mächtiger Dickhäuter. Gaby zuckte zusammen. Es klang nah und irgendwie bedrohlich. Sehen konnte sie den Jumbo nicht. Der Zoo ist rundum mit dichter Hecke umgeben, die sich im Laufe ihres Wachstums in den hohen Maschenzaun geflochten hat. Doch Gabys Fantasie war schon in die wildesten Gegenden Afrikas enteilt. Sie sah sich auf glutheißer Savanne, umgeben von wütenden Elefanten - und kein Tim in der Nähe, nicht mal ein Affenbrotbaum mit touristen-freundlichen Kletterästen.
Gabys Gewissen war etwas schlecht drauf - seit einer halben Stunde. Denn vorhin - beim Start von Zuhause - war's die Frage gewesen: Oskar mitnehmen - ja oder nein?
Eigentlich hätte er nicht gestört auf der Fete. Aber Gaby hatte Bedenken gehabt wegen der wackligen Palme. Auf die musste sie achten, meist mit einer Hand hinter sich. Dann noch den Vierbeiner an der Leine führen - das wäre absolut stressig geworden. Deshalb hatte sich Gaby dagegen entschieden. Aber ganz wohl war ihr nicht.
Später würde sie sich fragen, ob ihre Entscheidung zum Glück oder zum Unglück war. Einerseits hätte ihr Hund sie vielleicht rechtzeitig vor dem Unheil gewarnt. Andererseits hätte es vielleicht - seinen Tod bedeutet. Denn Bären sind fast 60 km/h schnell. Und wer weiß, wo sich in der Panik Oskars Leine verfangen hätte.
Gabys Blick wanderte nach rechts. Und diesmal war der Schreckauslöser keine optische Täuschung. Denn die Umfriedung des Zoos war defekt. In Hecke und Zaun war ein Loch, ein riesiges Loch. Ein Kleinwagen hätte durchgepasst.
Wer auch immer das angerichtet hatte - es war mit unglaublicher Kraft geschehen. Vom sehr stabilen Maschenzaun hing Drahtgeflecht in die Öffnung wie zerrissene Spinnweben. Die kräftige Koniferen-Hecke war zerbrochen, teils entwurzelt. Die Bruchstellen der Büsche waren ganz frisch.

Illustration von Seite 128.
Illustration von Seite 128.

Gaby befand sich etwa sechs Meter entfernt. Und sah: Hinter der Hecke bewegte sich etwas, ja! Dort war ein großes dunkles Tier. Jetzt war's an dem Loch und schob sich durch auf den Grünstreifen neben der Straße. Gaby schrie auf.
Sofort bewegte der riesige Braunbär den Kopf. Ausdruckslose Augen - ausdruckslos durch jahrelange Gefangenschaft - sehen sie an.
Gaby weiß, wie schnell Bären sind. Sie sehen nicht aus wie Sprinter, aber sie sind's. Dieses Raubtier hier war mindestens zweieinhalb Meter lang und sechs Zentner schwer.
Ein Ursus arctos. Europas stärkstes Raubtier, das großes Wild, auch Schafe und Rinder reißt. Als Teddy entzückend, aber hier ...
Also doch!, schoss es ihr durch den Kopf. Keine Täuschung. Bären sind frei. Der von eben. Und dieser. Mindestens zwei. O Gott!
Vergessen war die Zimmerpalme. Gaby sauste los, was die Reifen hielten. Vorbei an dem Raubtier, das sich ebenfalls in Bewegung setzte. Gabys Herz hämmerte. Angst hatte sie wie eine Faust im Nacken gepackt. Ein Prankenhieb - und aus wäre alles. Himmel, dieser Petz wusste doch nicht, was für eine Tierfreundin sie ist: Eine Tierschützerin, die sich einsetzt für alle im Tierreich und deren Rechte. Doch selbst wenn er's gewusst hätte: Ein Raubtier bleibt immer ein Raubtier und zerfleischt - wenn nicht abgerichtet - auch die Hand, die es füttert.
Gaby preschte mit Höllentempo.
Hinter ihr ein ärgerliches Brummen.
Blick zurück! Der Bär folgte ihr, galoppierte auf allen vier Tatzen. Aber sie war schneller.
Die Palme schwankte wie wild.
Noch schneller!!!
Wahnsinn!, dachte sie. Wieso sind die Bären frei? Wird das ein Streichelzoo für Lebensmüde?
In diesem Moment kam der zweite Bär aus dem Wald, kam unter den Bäumen hervor und war mindestens so gewaltig wie Gabys Verfolger.
Tims Begegnung mit den Bären
Als Tim die Lichtung überquerte, kam der Bär.
Das Raubtier trollte links unter den Bäumen hervor, war etwa 30 Meter entfernt und verhielt.
Tim und der Bär starrten sich an.
Bleib da!, dachte der TKKG-Häuptling. Du bleibst da! Dreh ab! Leg dich auf den Rücken! Mach den Teddy!
Tim war cool. Wie immer bei Gefahr. So was kann ihn nicht schrecken. Wenn eigene Action angesagt ist, bleibt alles im Griff, bleibt alles unter Kontrolle. Die Angst um Gaby - das ist was anderes. Das drückt die Luft ab.
Tim legte alle Kraft in seinen Blick, war überzeugt von der hypnotischen Wirkung - nach dem Motto: Der stärkere Wille siegt.
Igor - es handelte sich um den männlichen Bären - sah das anders. Vielleicht erinnerte Tim ihn an einen Pfleger, den er nicht leiden konnte. Oder er gehörte zu den intoleranten, fremdenfeindlichen Bären, die grundsätzlich was gegen Zweibeiner haben.
Jedenfalls setzte er sich in Bewegung, rannte auf Tim zu - und das nicht in freundlicher Absicht.
Tim schnellte zum Eichenstamm. Dabei war ihm klar, dass der für eine Kletterstange viel zu umfangreich war, nämlich dick wie ein Fass, und dass er andererseits für einen Kletterbaum keine - oder kaum - Griffmöglichkeiten bot. Die dünnen Triebästchen hielten nicht viel aus.
Am Stamm! Tim schnellte hoch im Sprung und erwischte zwei Ästchen. Der linke riss ab. Der rechte hielt. Tim fasste links einen zweiten, etwas höher, und versuchte, sich mit den Füßen abzustützen. Tatsächlich geriet eine Fußspitze in ein Astloch.
Weiter! Tims Hände wirbelten. Die meisten Äste brachen oder rissen aus dem Stamm, während er sich hinauf arbeitete. Blitzschnelle Griffe waren erforderlich. Er musste loslassen, bevor der Halt nachgab, musste schon den nächsten erreicht haben.
Als der Bär anlangte, befanden sich Tims Füße etwa zweieinhalb Meter über dem Boden.