Band 092: Im Schlauchboot durch die Unterwelt

Band 092: Im Schlauchboot durch die Unterwelt
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ISBN:
Gebundenes Buch · 192 Seiten · 12.2 x 18.8 cm
cbj
Juli 2004
€ 7,50 [D] | € 7,80 [A] | CHF 13,90 (UVP)
978-3-570-15092-4
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Leseprobe

llustration von Seite 37.
llustration von Seite 37.

Sie war sieben Monate alt, 68 cm lang, 15 Pfund schwer und
hatte einen wunden Po.
Matilde betrachtete das Baby mit einem Gemisch aus
Zärtlichkeit und Angst. Susi lag auf dem Tisch, strampelte
und hatte sich noch nicht entschieden, ob jetzt Lachen oder
Weinen an der Reihe war. Durch die ausgebleichte Gardine
des Fensters drangen die Strahlen der Märzsonne. Susi
wurde umhüllt von goldenem Licht wie von einem Kokon
(Hülle der Insektenpuppen).
Doch dieser Augenblick im Sonnenlicht war kein Symbol
für Geborgenheit. Im Gegenteil: Susi war das 10 000 000-
Euro-Baby. Öffentlichkeit und Presse stellten bereits Vermutungen
an, ob es überhaupt noch am Leben oder längst
tot sei.
Matilde hatte Susi gebadet, geölt und in frische Windeln
gewickelt. Jetzt noch einen Teller mit Brei – dann würde Susi
hoffentlich schlafen.
Matilde horchte nach vorn, während sie – das Baby im
Arm – fütterte. Hatte die Eingangstür gebimmelt? Ein Besucher?
Nein. Stille.

Illustration von Seite 61.
Illustration von Seite 61.

ERWINS PANOPTIKUM (Wachsfigurenschau) hatte
zwar geöffnet, stand aber nicht auf der Hitliste für die
Touristen der TKKG-Stadt. Einheimische aus der Millionen-
Metropole kamen ohnehin nur selten her. Das kleine
und seltsame Museum konnte seine Leute nicht ernähren,
weshalb Erwin Kräsch – Matildes Vater – in erster Linie drei
Taxis laufen hatte. Das brachte Vater und Tochter über die
Runden.
Noch ein Löffelchen und jetzt das letzte. Susi machte ihr
Bäuerchen, wurde in die ausgepolsterte Kiste gelegt, die das
Kinderbett ersetzte, und knabberte an ihrem Beißring.
Sonderbar. Susi hatte sich rasch an diese fremde Frau, an
Matilde, gewöhnt.Vielleicht weil das Baby instinktiv spürte:
Von Matilde ging nichts Böses aus.Auch die junge Frau war
ein Opfer.
Sie war 22. Als Opfer hatte sie sich immer gesehen – als
Opfer ihres harten, ja rohen und rücksichtslosen Vaters. Sie
besaß nicht die Kraft sich gegen ihn aufzulehnen. Er hätte
es ihr grausam vergolten. Matilde gehorchte – seit sie denken
konnte – und im Gehorchen war sie absolut zuverlässig.

Illustration von Seite 89.
Illustration von Seite 89.

Seit dem Unfall als Zwölfjährige war ihr linkes Bein verkürzt.
Sie humpelte trotz orthopädischem Schuh und gewaltigem
Absatz. Ihr Weg als graue Maus schien vorgezeichnet:
eine blasse, fahl blonde junge Frau mit Sommersprossen
und unsicherem Blick. Ihr Blick war meistens nach
innen gerichtet – auf ihre Träume. Nicht auf das, was sie sich
erträumte, wünschte – sondern auf ihre Albträume. Unter
denen litt sie – Nacht für Nacht – bis an den Rand des Wahnsinns.
Matildes Aufgabe war das Museum: ERWINS PANOPTIKUM
Besucher einlassen, Eintritt kassieren, eventuell führen
und erklären, aufpassen, dass nichts beschädigt wird, möglichst
eine kleine Broschüre verkaufen, die von Kuriositäten
(Merkwürdigkeiten) und deren Zurschaustellung handelte.
Außerdem liefen hier die Anrufe der Taxi-Stammkunden ein.
Und jetzt kam hinzu, dass Matilde das Baby betreuen
musste.
Sie wusste: Damit war sie Mitwisserin. Damit war sie mitschuldig
an einem schweren Verbrechen. Dennoch konnte
sie nichts dagegen tun.