An einem Donnerstag Mitte Juli gab’s Hitzefrei. Die
Internatsschule war total leer, das Neptunia-Freibad am
südlichen Stadtrand dafür umso voller. Ungezählte Sonnenbrände
wurden eingeleitet und Klößchen zog sich
schon das fünfte Schoko-Eis rein.
TKKG lagen auf Gabys orangerotem Badelaken, das
immerhin vier Quadratmeter misst. Eine Schwarzerle
spendete Schatten. Gaby ließ sich von Tim den Rücken
einölen und Karl döste über einem dicken Buch über
Sonderfälle des deutschen Strafrechts.Aus Versehen hatte
er das eingepackt.
Gaby, die bäuchlings lag und mit aufgestützten Ellbogen,
pustete gegen ihre Ponyfransen.
»Die schöne Anna«, sagte sie, »ist zweifellos die schönste
Lehrerin, die wir jemals hatten.«
»Stimmt«, brummte Klößchen. »Sie ist hinreißend schön.«
»Warum soll nicht auch eine Lehrerin schön sein«, meinte Tim.
»Sogar eine Polizistin kann eine Schönheit sein«, bestätigte
Gaby, »oder eine Pastorin oder eine Altenpflegerin.
Obwohl natürlich der Charakter mehr zählt.«
»Charakter und Intelligenz«, sagte Karl und blätterte um.
»Weshalb kommst du jetzt auf Anna?«, fragte Tim.
Er lag wie Gaby und hatte das Gesicht wieder in den
gekreuzten Armen vergraben.
»Weil sie dort hinten ist«, erwiderte seine Freundin.
»Und sie wird angebaggert.«
Die Jungs hoben die Köpfe.
Gaby wies in den hinteren Teil der riesigen Liegewiese,
wo die etwas ältere Generation in der Gluthitze lagerte.
Tim entdeckte Dr. Anna Riedel sofort. Und das nicht
wegen ihres knallroten Bikinis, sondern wegen des Typs.
Anna Riedel war 29, schlank und von madonnenhafter
Schönheit. Die großen dunklen Augen blickten meist
etwas erschreckt und Annas Haltung schien auszudrücken,
sie suche Schutz. Das Haar trug sie kurz, im vergeblichen
Bemühen, sich damit eine sportlich kesse Note zu geben.
Die Studien-Assessorin unterrichtete Englisch und
Deutsch. Ihr Wesen war sanft. Eine schlechte Note zu geben,
bereitete ihr sicherlich Bauchweh. Dass sie bei allen
männlichen Schülern beliebt war, versteht sich von selbst.
Aber auch die Mädchen mochten Anna Riedel ausnahmslos.
Ihr Spitzname »die schöne Anna« war ein freundliches
Etikett und frei von jedem Spott.
Jetzt saß sie auf ihrem Badetuch und blickte auf zu dem
Typ, der stehend auf sie einredete.
»Sie scheint ihn zu kennen«, stellte Tim fest.
»Aber begeistert ist sie nicht«, sagte Gaby.
Klößchen beschattete die Augen mit flacher Hand.
»Ziemlich billiger Typ.«
Tim grinste. »Eine Kreuzung aus Bodybuilder, Model
für Unterwäsche und Anabolika-Dealer (Anabolikum =
gesundheitsschädliches, Muskel bildendes Präparat).«
Der Mann war braun gebrannt, schwarzlockig und hatte
jene Art von Muskeln, die optisch was hermachen, aber
bei Gebrauch versagen. Seine Schwimmshorts waren so
strahlend blau, wie man sich ein Meer zum Baden erträumt.
Hm!, dachte Tim. Die beiden reden heftig miteinander.
Und Anna bricht gleich in Tränen aus – das sehe ich sogar
von hier.
»Wahrscheinlich will er mit Anna Wasserball spielen«,
meinte Klößchen. »Aber sie will sich sonnen. Kann sie
überhaupt schwimmen?«
Keiner wusste das.
Tim beobachtete jetzt, wie der Strand-Adonis in die
Hocke ging, aber Anna wandte sich ab, drehte ihm den
Rücken zu und warf sich einen grell bunten Pareo (Wickeltuch)
über die Schulter.
Der Adonis quasselte noch eine halbe Arie ins Leere –
ohne Aufmerksamkeit zu erzielen.
Schließlich streckte er sich wieder und schritt davon mit
angespannten Muskeln und erhobenem Haupt.
Tim spürte instinktiv Unbehagen.Als der Mann das Gesicht
in seine Richtung wandte – zufällig –, erschrak er:
über die kalte Wut in den ausgemergelten Zügen.
»Uih!«, meinte Gaby. »Der ist aber verstimmt.«
»Verstimmt? Der kocht.«
»Vielleicht nimmt er’s persönlich, dass er abgeblitzt
ist.« Gaby lachte auf und verbesserte sich. »Aber wie soll
man’s sonst auffassen, wenn nicht persönlich. Zu- oder
Abneigung, das hat nur damit zu tun.«
»Anna scheint jetzt zu schlafen«, vermutete Klößchen.
»Jedenfalls schützt das Tuch sie vor Sonnenbrand.«
Damit war das Thema beendet. Karl las weiter. Auch
Klößchen schlief ein. Tim kitzelte Gaby mit einem Grashalm.
Im Freibad tobte die Hölle. Und das keimfreie Wasser
roch und schmeckte nach Sonnencreme.
Die Sonne stand hoch. Mittag.Aber nicht mal Klößchen
hatte Hunger. Tim sagte, er lade ein, trabte mit seinem
Portmonee zum Kiosk und kam beladen zurück: noch ein
Schoko-Eis für Klößchen, Cola light für Gaby, Karl und
sich selbst.