Band 096: Der Meisterdieb und seine Feinde

Band 096: Der Meisterdieb und seine Feinde
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Preise bei Erscheinen:
ISBN:
Gebundenes Buch · 192 Seiten · 12.2 x 18.8 cm
cbj
Juli 2004
€ 7,50 [D] | € 7,80 [A] | CHF 13,90 (UVP)
978-3-570-15096-2
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Leseprobe

llustration von Seite 34/35.
llustration von Seite 34/35.

Genau um 12.42 Uhr erreichte der Meisterdieb die TKKG-Stadt
– denn der Intercity-Express war ausnahmsweise mal
pünktlich.
Ein Donnerstag Anfang November. Getöse im Hauptbahnhof.
Reisende aus nah und fern.
Aber kein roter Teppich für mich, dachte er belustigt.
Keine Blumen zum Empfang. Nicht mal die Presse weiß von
meiner Ankunft. Aber die werden sich noch wundern. Bald
beherrsche ich die Schlagzeilen.
Als er den Zug verließ, war er wie aus dem Ei gepellt:
Ende dreißig, hoch gewachsen, elegant und auf markante
Weise gut aussehend.Typ Golfspieler mit eigenem Platz.
Nachher werde ich nicht mehr so aussehen, dachte er –
und grinste vor sich hin, den Blick auf den schmutzigen Boden
von Bahnsteig 32 gerichtet.
Der Mann hieß Jean-René Wenk. Er mochte diese Riesenstadt.
Er wollte eine Weile hier bleiben. Er war vor Kurzem
schon hier gewesen, hatte ausbaldowert und eine Liste
von Vorhaben im Kopf: Einbrüche und Raub auf seine besondere
Weise.

Illustration von Seite 68.
Illustration von Seite 68.

Es war einträglich. Aber es war ein harter Job, trocken
und wenig lustig. Einen begabten Typ wie ihn – der vor 20
Jahren davon geträumt hatte, Schauspieler zu werden –
füllte das nicht aus. Deshalb frönte er immer wieder seinem
Hobby, um sich selbst zu beweisen, wie unwiderstehlich er sei.
Jean-René Wenk verbrachte seine Freizeit als Heiratsschwindler.
Er wusste: Nie waren die Zeiten so günstig. Eine Welt, in
der alles aus den Fugen geht. Beziehungen zerbrechen wie
zertrampeltes Glas – aber niemand will allein durchhängen,
öden Frust schieben, vereinsamen. Partnervermittlung wird
angeboten – in Kontaktanzeigen, im Internet, bei speziellen
Partys und von geldscheffelnden Profis mit Büro.
Für Wenk eine herrliche Spielwiese zum Betrügen: Um
Frauen auszunehmen. Wobei es ihm überhaupt nicht aufs
Geld ankam, sondern nur auf die Wirkung seiner Person.
Dass ich es kann!, dachte er. Dass ich sogar davon leben
könnte! Himmel, was für ein heißes Feeling!
Bad Schanzlahr fiel ihm ein. Ein hübsches Städtchen
nicht weit von hier.Wann war das gewesen? Vor sechs Jahren?
Ungefähr. Eine blasse Erinnerung stieg in ihm auf.Und
plötzlich fiel ihm ihr Name ein: Helga Drewes. Ja! Eine
schlanke Blondine. Recht nett eigentlich, aber damals hatte
er sie mit seiner Methode gelinkt und ihr 3000 DM – es
waren noch DM-Zeiten – abgeknöpft.
Wenk schritt aus, umrundete eine Drei-Zentner-Frau –
die zum Imbiss-Stand keuchte – und strebte zu einem Blumenladen.
Dieses Gedränge in der riesigen Halle! Hektik, Lautsprecher-
Durchsagen, Anzeigetafeln mit flimmernder Digitalschrift,
überall Werbung zum Verblöden und babylonisches
Sprachgewirr.

Illustration von Seite 131.
Illustration von Seite 131.

Wenk erstand einen Strauß blassroter Rosen, wurde von
einer lispelnden Floristin bedient und spendete einen Euro
für die Kaffeekasse.
»Vielen Dank, mein Herr! Ssssönen Tag noch!«
Er grinste. Draußen sah er das Hinweisschild. Dort ging’s
zu den WCs, ein eigener Trakt im Hauptbahnhof, eine Welt
für sich.
Wenk trug seine Reisetasche. Mit den Rosen ging er achtlos
um. Im Rhythmus der Schritte schlug er mit den Blüten
gegen sein Knie. Im WC-Trakt herrschte momentan wenig
Bedürfnis. Die meisten Kabinen waren frei. Bei einem der
Waschbecken schäumte sich ein etwa 14-jähriger Junge die
Hände mit Flüssigseife ein. Er war überaus vollschlank,
hatte rotblondes Haar und segeltaugliche Ohren. Aus der
linken Hosentasche ragte eine große Tafel Schokolade, aus
der Jeans-Gesäßtasche auch. Und eine dritte Schoko-Tafel
hatte er vor sich auf den Rand des Waschbeckens gelegt.
»Zum Teufel mit diesem Klebstoff«, hörte Wenk ihn fluchen.
»Zum Teufel! Geht nicht ab… der geht nicht ab!«
Wenk schloss sich ein. Hastig vertauschte er seinen Nobeltrench
gegen einen anderen. Aber wie sah der aus? Eingerissen
der Ärmel, verdreckt die ganze Seite – als hätte
Wenk sich am Boden gewälzt.
Das gehörte zur Methode.
Als Spezialist für einsame Frauen hatte er sich einen Plan
ausgedacht, der bestens funktionierte. Aus Partnerschafts-
Inseraten suchte sich Wenk das Passende heraus: Privatanzeigen
mit Telefonnummer. Er besaß eine männliche
Stimme. Sie flößte Vertrauen ein.Also hatte er angerufen in
der vorigen Woche und sich vorgestellt als Ralf Höfler. Ein
Treffen im Café Mozart – unweit vom Hauptbahnhof.
»Ich freue mich darauf, Ihnen in die Augen zu sehen, Frau Elken.«
»Ich mich auch.« Ihre Stimme hatte gezwitschert. »Woran
erkenne ich Sie?«
»Als unveränderliches Kennzeichen habe ich nur meine
Blinddarmnarbe.«
Sie fand das ulkig und hatte erwidert: »Ich bin blond und
schlank.Vor mir auf dem Tisch wird ein Buch liegen mit gelbem
Umschlag.«
Na also, dachte Wenk jetzt – und schloss den Reißverschluss
seiner Tasche. Dann ließ er den Blumenstrauß fallen.
Heftig trat er auf die Rosen, auf die Blüten, aufs umhüllende
Papier.
Auch das gehörte zu seiner Story.
Wie immer: Irgendwelche Typen – am besten Glatzen mit
Springerstiefeln – hatten ihn im Zug überfallen, zu Boden
geworfen, beraubt. Brieftasche weg – mit allem drin. Armbanduhr
weg. Mantel zerfetzt. Nicht mal die Blumen hatten
diese Kriminellen verschont.
Jedes Mal servierte er dieses Märchen. Seine Opfer fragten
dann, ob er die Polizei verständigt habe. Natürlich!
Gleich noch am Bahnhof. Aber nun? Ohne Geld, ohne
Kreditkarten, ohne Fahrausweis. Und im nobelsten Grandhotel
sei doch das Luxuszimmer gebucht – und dort im Restaurant
für heute Abend der Tisch schon bestellt. Für sie
beide, versteht sich.
Tief sahen sie ihm dann in die Augen, die einsamen Herzen.
Die Portmonees öffneten sich für ein Darlehen. Vierstellig,
selbstverständlich. Wer nicht genug bei sich hatte,
eilte zum Geldautomaten.
Und Wenk, der meistens schon nach einer halben Stunde
verschwand, badete jedes Mal in der Bewunderung seiner
selbst.
In ramponiertem Zustand verließ er nun die Kabine.
Der dicke Bengel am Waschbecken war immer noch da
und schrubbte seine Hände.
Hm! Damit hatte Wenk nicht gerechnet.
Er ging hinter dem Jungen vorbei. Im Spiegel über dem
Waschbecken trafen sich ihre Blicke.